Die Sonne, der Mond, ein Tisch, ein Stuhl - sind Objekte nur Piktogramme auf einem gigantischen Windows-Desktop unseres Bewusstseins? Der Kognitionsforscher Donald Hoffman meint ja. Er glaubt, diese Benutzeroberfläche ist nötig, weil die wahre Welt dahinter viel zu komplex für uns ist.
Die Internetzeitschrift " Edge" versammelt in einer legendären Serie Beiträge der renommiertesten Wissenschaftler der Welt - und stellt ihnen unter anderem die Frage: Was halten Sie für wahr, ohne es beweisen zu können? SPIEGEL ONLINE präsentiert ausgewählte Antworten.
Ich glaube, dass es nichts gibt außer dem Bewusstsein und seinen Inhalten. Raumzeit, Materie und Felder waren nie die Hauptbewohner des Universums, sondern gehörten immer schon zu den untergeordneten Bewusstseinsinhalten und hätten ohne es nicht existiert.
Die Welt unserer Alltagserfahrung – die Welt der Tische, Stühle und Personen mit allem, was sie an Formen, Gerüchen, Empfindungen und Klängen begleitet – ist eine gattungsspezifische Benutzeroberfläche zwischen uns und einer sehr viel komplexeren Sphäre, deren wesentliche Eigenschaft bewusst ist.
Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die Inhalte unserer Oberfläche jener Sphäre in irgendeiner Weise gleichen; im Prinzip würde das sogar ihren Nutzen beeinträchtigen, der ja (wie im Fall etwa der Computeroberfläche Windows) gerade darin liegt, die Handhabung zu vereinfachen und zu erleichtern. Wir klicken Piktogramme an, weil es schneller geht und nicht so mühsam ist, wie selbst umfangreiche Programme zu schreiben oder Ströme gezielt durch Regelkreise zu schicken. Der evolutionäre Druck erzwingt, dass die für unsere Spezies spezifische Oberfläche – diese Welt der Alltagserfahrung – eine radikale Vereinfachung bedeutet, die keiner genauen Darstellung der Wahrheit, sondern der variablen Pragmatik des Überlebens dient.
DIE EDGE-FRAGE
DER AUTOR
FORUM
Was halten Sie für wahr, ohne es beweisen zu können?
Diskutieren Sie mit anderen SPIEGEL-ONLINE-Lesern!
Ohne bewussten Geist keine Sonne und kein Mond
Zum Beispiel können die Regeln, nach denen das menschliche Sehen Farben, Formen, Tiefen, Bewegungen, Texturen und Objekte konstruiert – jüngst dokumentiert durch psychophysische Untersuchungen und Computerstudien der Kognitionsforschung –, als eine zwar partielle, aber mathematisch genaue Beschreibung dieser Ableitung lesen. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind die unabhängig vom Beobachter existierenden physikalischen Objekte. Ohne bewussten Geist, der sie wahrnimmt, gibt es weder Sonne noch Mond: Beide sind Konstrukte des Bewusstseins, Piktogramme auf einer gattungsspezifischen Benutzeroberfläche. Manch einem wird das als eine reductio ad absurdum erscheinen, der sowohl die Erfahrung als auch unsere beste Wissenschaft widerspricht. Doch unsere beste Wissenschaft, das ist die Quantentheorie, und die gibt keine solche Zusicherung – während die Erfahrung uns einst glauben machte, dass die Erde eine Scheibe und die Sterne nahe seien. Vielleicht werden die vom Geist unabhängigen Objekte einmal das gleiche Schicksal erleiden wie der Erdfladen.
MEHR ÜBER...
Hirnschäden zerstören die neuralen Korrelate und beeinträchtigen zweifellos das Bewusstsein. Doch können weder das Gehirn noch die neuralen Korrelate Bewusstsein erzeugen: Vielmehr ist das Gehirn eine Konstruktion des Bewusstseins. Das ist nichts Geheimnisvolles. Wenn man das Piktogramm einer Datei in den Papierkorb verschiebt, ist die Datei zweifellos gelöscht. Doch verursacht weder das Piktogramm noch der Papierkorb die Löschung, da beide nur Muster von Pixeln auf einem Bildschirm sind. Das Piktogramm ist eine Vereinfachung, ein grafisches Korrelat zum Inhalt der Datei mit dem Zweck, das komplexe Gewebe der kausalen Relationen nicht hervorzuholen, sondern zu verbergen.
Quelle: www.spiegel.de